In Zeiten des knapper werdenden Baulandes, angespannter Wohnungsmärkte und steigender Mietpreise hat sich Nextzürich gefragt: Wie können wir in Zürich eigentlich wohnen? Welche wegweisenden Wohnformen und Möglichkeiten des Zusammenlebens gibt es bereits? Wo in Zürich leben Menschen, die sich mit dieser Frage befasst und ihre Wohnsituation entsprechend gestaltet haben? Oder Menschen, die einfach aus ganz pragmatischen Gründen in einer nicht ganz 08/15-konformen Wohnform leben?
Wir haben sechs solcher Menschen bzw. Gemeinschaften ausfindig gemacht und am 6. Oktober 2018 auf einen öffentlichen Spaziergang durch ihre Wohnungen und Häuser eingeladen. Auf zwei parallel laufenden Touren erkundeten wir mit jeweils 15 bis 20 Teilnehmenden das Zuhause von Zürcher*innen, die bereit waren, ihre Türen zu öffnen und uns mehr über ihre Wohnsituation zu erzählen. Ein Kurzbericht von zwei Wohnungsspaziergängen.
Vom Service-Wohnen zur Selbstverwaltung
James: Wohnen mit Service
Tour 1 startete in Albisrieden bei einer Überbauung auf einem ehemaligen Industrieareal, dessen Eröffnung 2007 auf ein breites Echo stiess. Denn der Slogan des James, einem Projekt des Immobilienfonds der UBS lautet: „Wohnen mit Service“. Hier soll gemäss Homepage ein innovatives Wohnkonzept umgesetzt worden sein, welches sich an den heutigen Mieterbedürfnissen und Lebensformen ausrichtet.
Was das konkret bedeutet, erzählt uns Andrea, die hier mit ihrer 12-jährigen Tochter und einer Freundin in einer 4-Zimmerwohnung wohnt. Beim Betreten des Foyers im markanten Wohnhochhaus begrüsst uns der Concierge, von dem Andrea einfach als “James” spricht – denn der Name ist Programm. Er erledigt bzw. organisiert diverse Dienstleistungen für die Bewohner*innen der rund 280 Wohnungen. Diese reichen von Wäscheservice, Wohnungsreinigung, Postservice, Restaurantreservationen, Blumengiessen oder Katzenfüttern bei Ferienabwesenheit bis zum Skiservice im Winter. Als Alleinerziehende und berufstätige Mutter sei die Wohnsituation für sie hier geradezu ideal, meint Andrea.
Die großzügige Wohnung mit zwei Bädern eigne sich perfekt für ihre Wohnform. Ausserdem erleichtern die angebotenen Services den Alltag zwischen Arbeit, Freizeit und Erziehung. Und wenn es mal nicht zum Kochen reiche, ginge sie auch gern ab und zu im Restaurant der nebenan liegenden Boulderhalle essen, das zu einem Art Quartiertreffpunkt geworden sei.
Unter den Nachbar*innen – zumindest den Familien – herrsche mittlerweile auch ein guter Austausch. Einmal im Jahr organisieren die Bewohner*innen einen Kinderflohmarkt und im Sommer finden hie und da spontane Grillabende statt. Als einzigen Wermutstropfen empfindet Andrea die fehlenden Velo-Parkplätze in der Siedlung. Die Transformation des ehemaligen Industrie-Quartiers schreitet derweil weiter voran. Bis 2023 soll auch das nahe liegende Koch-Areal neu überbaut werden. Man darf gespannt sein, wie die Senn Development AG, die Wohnbaugenossenschaften ABZ und KraftWerk1 dabei auf die heutigen Lebensentwürfe eingehen und wie sie das Motto „Wohnen und Arbeiten auf dem Koch-Areal“ interpretieren werden. Die Ergebnisse des laufenden Architekturwettbewerbs sollen im Frühjahr 2019 vorliegen.
Genossenschaft 31. März: selbstverwaltete Hausgemeinschaft
Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man eigentlich wohnen und leben möchte, stand auch am Anfang der Gründung der Genossenschaft 31. März – der nächste Halt unseres Spaziergangs. Entstanden ist sie aus einer Initiative in den 80er-Jahren von zehn Personen, die in einer selbstverwalteten Hausgemeinschaft zusammen wohnen wollten. Wohnraum in Zürich war bereits damals teuer und knapp. Doch die Genossenschaft schaffte es alsbald, ein erstes Haus an der Schreinerstrasse in Zürich Aussersihl zu erwerben. Inzwischen gehört auch ein weiteres Nachbarhaus zur Genossenschaft. Verbunden sind sie über zwei Gemeinschaftsräume und eine Dachterrasse mit einem beneidenswerten Blick über die Stadt. In den zehn Wohnungen der Genossenschaft leben heute rund 30 Personen.
Nicht nur das Quartier rundherum, auch die Bewohnerschaft hat sich in den letzten 30 Jahren verändert. Mittlerweile wohnen keine Gründungsmitglieder mehr im Haus. Eine Konstante gibt es aber: Bis heute wird jeden Dienstag gekocht und im Gemeinschaftsraum im Erdgeschoss des Eckhauses zusammen zu Abend gegessen. An diesen Abenden können bei Bedarf drängende Themen rund um das Zusammenleben besprochen werden. Oder gemeinsame Putz-, Flick- und Bau-Tage initiiert werden, an denen alle Bewohnende mithelfen, die Gemeinschaftsräume sowie den Hof und die Terrasse in Schuss zu halten.
Die Mieten in der Genossenschaft sind zwar günstig, aber (wie bei vielen Genossenschaften) muss ein Darlehen in die Genossenschaftskasse einzahlen, wer hier wohnt. Damit verbunden ist ein Mitspracherecht in der Genossenschaft, die basisdemokratisch und selbstverwaltet funktioniert. Das bedeutet auch Arbeit, geben drei der Bewohnenden zu bedenken. Selbstverwaltung und Basisdemokratie erfordern (freiwilliges) Engagement. Dass dabei auch mal Reibereien entstehen und immer wieder die Frage geklärt werden muss, wer eigentlich welche Arbeit macht, versteht sich von selbst. Auch die “Regeln” der Genossenschaft – seien sie informell oder statuarisch festgelegt – müssen immer wieder in Frage gestellt und neu ausgehandelt werden. So gelten laut Statuten beispielsweise Belegungsvorschriften für die Wohnungen (Anzahl Zimmer = Anzahl Bewohner*innen minus 1). Aber wie setzt man das durch? Möchte man Personen, die schon lange hier wohnen und zur Gemeinschaft gehören, tatsächlich einfach “rausschmeissen”?
Die Genossenschaft Karthago: Grosshausalte
Die Selbstverwaltung als Prinzip und die Küche als Herzstück des Gemeinschaftsgedankens bilden zentrale Parallelen zum nächsten Projekt, das wir besuchen. Die Genossenschaft Karthago zählt zusammen mit der Genossenschaft Dreieck und dem KraftWerk1 zu den Pionieren aus den bewegten 90er-Jahren.
Sie entstand mit dem Ziel, neue Wohnformen zu ermöglichen. Konkret: Grosshaushalte. Karthago konnte ein Haus an der Zentralstrasse 150 erwerben und entsprechend umbauen. Ausser einem Mansarden-Zimmer sind alle neun Wohneinheiten des Hauses mit 16 bis 25 Quadratmeter grossen Zimmern als Gross-WGs konzipiert. Hier kann man keine ganze Wohnung mieten, sondern nur ein Zimmer. Wer sich auf ein Zimmer bewirbt, muss aber nicht bereits Genossenschafter*in sein, wie das bei vielen anderen Genossenschaften der Fall ist.
Die Wohnküchen der Gross-WGs sind relativ bescheiden ausgestattet. Das hat einen Grund: In der Gastroküche im Erdgeschoss des Hauses wird von Montag bis Freitag täglich ein 3-Gänge-Menü von professionellen Köch*innen zubereitet und im grosszügigen Speisesaal serviert. Die Köch*innen werden über die Mieten finanziert. Dass jeder für diesen Service zahlt, auch diejenigen, die das Angebot nicht nutzen, gehört zum Genossenschaftsprinzip. Von den rund 50 Bewohner*innen des Hauses machen denn auch längst nicht alle vom Küchen-Angebot gebrauch, erzählt uns Barbara. Sie wohnt in einer der neun Gross-WGs des Hauses. Je nach Lebensphase sei man nun mal nicht jeden Abend zum Essen zu Hause. Am Wochenende steht der Speisesaal den Bewohnenden aber auch für andere Zwecke zur Verfügung, sei es für ein Geburtstagsfest oder einen Spieleabend. Eine weitläufige Dachterrasse mit Rundumsicht auf Zürich, ein Gemeinschaftsraum im Keller und ein Sitzplatz im Innenhof können ebenfalls von allen genutzt werden.
Von der WG zum Klein-Quartier
RennWG: Villa Kunterbunt
Tour 2 startete mitten im geschäftigen Einkaufsviertel im Kreis 1 in einem der altertümlichsten Häuser der Zürcher Altstadt. Hier am Rennweg 8 ist der Verein RennWG zu Hause.
Schräge Böden, Holzheizung, Spuren diverser DIY-Renovationen, ein Gartensitzplatz und eine bunt gemischte Bewohnerschaft verleihen dieser Villa Kunterbunt aus dem 15. Jahrhundert viel Charme. Seit 1995 wird das Haus in den oberen drei Etagen von WGs in unterschiedlichsten Konstellationen bewohnt.
Aktuell zählt die Bewohnerschaft sieben Personen. Das Besondere: Seit Jahren finden einmal wöchentlich im hauseigenen Kinosaal Filmvorführungen statt. Außerdem wird der Rittersaal regelmässig vom Wohnzimmer zum Konzertsaal umfunktioniert. So gehen seit über 20 Jahren wöchentlich altbekannte und neue Gesichter im Haus ein und aus. Doch das eigentliche Herzstück des Zusammenlebens seien nicht in erster Linie die gemeinsamen Kulturveranstaltungen, sondern das Kulinarische, erzählt uns Bewohnerin Dominique. Jeden Tag kocht ein anderes WG-Mitglied für seine Mitbewohner*innen. Nach einer Pause im lauschen Gartensitzplatz, flanieren wir weiter in den Kreis 4 in den nächsten Garten.
Genossenschaft Gamper: Klein-Genossenschaft
Bei Sirup vom hauseigenen Holunderbaum erzählt uns Regi die Entstehungsgeschichte der Genossenschaft Gamper. Aus der Taufe gehoben wurde sie aus ganz pragmatischen Gründen. Das Haus sollte verkauft werden, worauf sich die Bewohnenden 2012 zusammen schlossen, um das Haus gemeinsam zu erwerben, ein aufregender Prozess, der schlussendlich ein ganzes Jahr dauerte.
Fluch und Segen gleichzeitig war dabei der Umstand, dass sich das Haus in der Baulinie einer neuer Tramlinie befindet, die allerdings frühestens ab 2030 einmal realisiert werden soll. Dadurch wurde das Haus nie richtig saniert und der Kaufpreis war entsprechend niedriger als ortsüblich. Dies ermöglichte es, genügend Eigenkapital aufzubringen. Zusätzlich half der Fond de Roulement des WBG Schweiz mit einem günstigen Darlehen.
Im Grunde gebe es in der Genossenschaft Gamper keine speziellen Wohnformen, meint Regi. Aber als Klein-Genossenschaft mit 9 Genossenschafter*innen entscheide man stets alles gemeinsam: neue Mieter*innen, ein Velohüüsli, kleinere Sanierungen am Haus. Eine der größten Entscheide, welche die Genossenschaft in der letzten Zeit fällte war, eine der Wohnungen via AOZ an eine Flüchtlingsfamilie zu vermieten. Damit habe man bislang sehr gute Erfahrungen gemacht.
Gemeinschaftsfläche und Begegnungsort des Hauses ist der großzügige Garten, der sich entlang der Bahngleise erstreckt und an dem im fünf Minuten Takt ein Zug vorbei rattert. Eigentlich gehört diese Fläche der SBB und beherbergte früher zwei Abstellgeleise. Durch den Bau der Eisenbahnbrücke im Projekt Durchmesserlinie entstand ein freier Streifen, der schliesslich von der SBB gepachtet werden konnte. Seither gedeiht hier allerlei heimisches Gemüse und Früchte. Ein Pizzaofen und mehrere Grillplätze laden zu gemeinsamen wie auch privaten Abendessen, wie man gerade Lust hat. Und friedlich gackern ein paar Hennen im hauseigenen Hühnerstall vor sich hin.
Das Dreieck: Mini-Viertel
Zu guter Letzt machen wir noch einen Abstecher zu einer Altbekannten der Zürcher Genossenschaftsszene: das Dreieck. Das Mini-Viertel zwischen Anker- und Zweierstrasse hat eine bewegte Geschichte hinter sich.
In den 50er-Jahren gab es in der Stadt Pläne für ein grosses Strasseninfrastrukturprojekt, dem die Gebäude auf diesem Areal einst weichen sollten. Die Stadt nutzte die heruntergekommenen Häuser daher als Notwohnungen mit günstigen Mieten. In einer Volksabstimmung 1979 wurden die Pläne der Stadt jedoch verworfen. Man begann neue Ideen für einen Neubau auszuarbeiten und schrieb einen Architekturwettbewerb aus. Doch die Mieter*innen vor Ort wollten sich das nicht gefallen lassen. Ihnen gefiel es in den vermeintlichen Abrissbuden, von denen sie überzeugt waren, dass man sie gut sanieren und so den günstigen Wohnraum erhalten könnte. Sie begannen sich zu wehren und schlossen sich mit weiteren Aktivist*innen zusammen.
Mit viel Engagement, kreativen Aktionen und intensivem Lobbying gelang es ihnen schliesslich, eine Genossenschaft zu gründen und die Grundstücke im Baurecht von der Stadt zu übernehmen. Schritt für Schritt wurden die Altbauten wieder fit gemacht, eine Bar und eine Kantine wurde gegründet und ein Gemeinschaftsraum eingerichtet. Der Innenhof etablierte sich zum beliebten Treffpunkte der Nachbarschaft. Inzwischen gehören der Genossenschaft zehn Altbauten und zwei Neubauten mit insgesamt 60 Wohnungen für rund 150 Bewohnende. Eine Besonderheit ist, dass die Genossenschaft nicht nur Wohnraum sondern auch 30 Gewerberäume vermietet: Vom Klavierbauer, Kleiderladen, Buchhändler, bis zum Lebensmittelladen und der Bar Si o No gehören also auch diverse Unternehmen, Betriebe und Kleingewerbler*innen zur Genossenschaft. Damit prägt das Dreieck das Gesicht des Quartiers massgeblich mit.
Auf der Dachterrasse des Gewerbegebäudes im ruhigen Innenhof werden wir von Corinna begrüsst. Sie wohnt seit einigen Jahren hier und engagiert sich im Vorstand der Genossenschaft. Vom Pioniergeist von damals sei heute nicht mehr ganz so viel zu spüren, berichtet sie. Dass nach einer ersten Gründungs- und Findungsphase aber eine Zeit der Konsolidierung komme, sei wohl ganz normal. Die erste Generation von Pionieren im Vorstand wurde inzwischen von neuen Gesichtern abgelöst. Das bietet Chancen, jetzt wieder Neues anzupacken, bestehende Strukturen und Reglemente zu überdenken und sich wichtigen Zukunftsfragen zu stellen: Soll die Genossenschaft neue Liegenschaften erwerben und weitere Sanierungen der Altbauten vornehmen oder ihr Kapital lieber in eine Senkung der Mietpreise investieren? Wie soll mit dem Generationenwechsel in der Bewohnerschaft umgegangen werden? Und wie könnten die bestehenden Gemeinschaftsflächen künftig genutzt werden?
Von Träumen, Mut und Pioniergeist
Voller Eindrücke finden wir uns in der Wohnzimmerbar zum wohlverdienten Apéro ein, wo die beiden Gruppen einander erzählen, was die anderen jeweils verpasst haben. Die Spaziergänge gaben Einblick in die vielfältigen Lebensstile, die unsere Stadt heute prägen und erzählten diverse Episoden von Zürichs Stadtentwicklungsgeschichte. Hinter den Hausfassaden unserer Stadt gäbe es wohl noch sehr viel mehr spannende Wohnformen und Hausbiografien zu entdecken.
Deutlich geworden ist zudem, dass das Wohnen und Zusammenleben nicht nur von den vorhandenen Gebäuden und Raumtypologien geprägt ist, sondern vor allem von den Individuen selbst, die sich darin bewegen und zusammenfinden. Klar wurde auch, dass es in einem hart umkämpften Wohnungsmarkt manchmal einiges braucht, um seine Wohnträume in die Tat umzusetzen: etwa eine ordentliche Portion Pioniergeist, Mut und Engagement, ein gewisses (Start-)kapital, etwas Glück und zuweilen auch einen ziemlich langen Atem… Nichtsdestotrotz inspirierten die Spaziergänge uns dazu, eigene Ideen zu entwickeln oder bereits bestehende Träume nicht aufzugeben.
Bilder: Nextzürich